Intensivstationen

Hüttenzauber

 

Wenn die berauschende Wirkung des Skifahrens nachlässt – der Herzschlag sich beschleunigt, das Körpergewicht wieder spürbar wird, der Fahrtwind nicht mehr bei jedem Atemzug eine Überdosis Sauerstoff in die Lunge presst, wenn das Hochgefühl des Tages verfliegt und die Nacht sich schwerfällig aus dem Tal heraufwälzt, dann wird es Zeit für einen Glühwein mit Schuss.

Jeder Rausch zieht einen anderen nach sich. Aprés Ski ist die logische Folge des Skifahrens, so wie Alkohol die Konsequenz von Alkohol ist.

In Jack Londons autobiografischer Erzählung König Alkohol gehen die körperlichen Ekstasen des Naturerlebens nahtlos in die künstlich erzeugten Delirien der Saloons über. Amerikas Experte für die Schönheit der Natur und die Abgründe der Trunksucht war selbst Alkoholiker.

 

Über die „weisse Logik“ des Trinkens schrieb er, dass sie nur dem unerschütterlichen Säufer zuteil werde: Aufrecht steht er an der Bar, und je mehr Gläser er kippt, desto illusionsloser wird sein Blick auf die Welt. Er gerät in einen Exzess geistiger Klarheit, er sieht die Sinnlosigkeit des Daseins, bewahrt aber Haltung. Stolz berichtet der Erzähler, wie er als Halbstarker einmal einen Robbenjäger unter den Tisch getrunken hat.

Diese Art Machismo droht in unserer Epoche der schicken Mixgetränke auszusterben. Doch an den Skipisten ist noch Platz für das Abenteuer eines Vollrausches. Warum nur führen alle Pisten an die Bar? Warum giert der Skifahrer mitten in der Erhabenheit winterlicher Gipfelpanoramen noch nach billigem Fusel?

Der Fotograf Lois Hechenblaikner zeigt uns die alpenländische Ballermann-Infrastruktur in ungewohnter Nüchternheit. Bei Tageslicht hat er gastlich wirkende Gastwirtschaften besucht und deren sterile Melancholie dokumentiert: die Parade der Plastikhocker, die schlaffen Kunstblumen, den traurigen Papierpinguin, die musikantenstadelhafte Blockhütte auf einer schneefreien Dorfstraße, die handgeschnitzte Abfüllrampe.

Wir kennen die Tristesse d´apres aus zahllosen Reportagen, mit denen die Zeitungen und Fernsehsender während der Skisaison Stimmung machen. Da tanzen grölende Menschen zu primitivem Amüsierpop á lá Anton aus Tirol. Üppige Dirndlmädchen servieren heißen Likör namens Eierbeißer.

Doch erst Hechenblaikners stille, menschenleere Fotos verdeutlichen uns die geheime Anziehungskraft der albtraumhaften Schankkulissen. Die Standleitungen für Glühwein, Obstler und Bier führen von den unsichtbaren Tanks direkt in das Zentrum der unsichtbaren Angst, wo die größte Furcht des Skifahrers die von der Ernüchterung ist, vor dem Absturz in die graue Realität, der dem rasenden Gefühlsausnahmezustand auf der Piste folgt.

 

Nach dem Rausch ist vor dem Rausch. Deshalb sehnte sich Jack London in den Weiten Alaskas nach einem Saloon. Deshalb ergab sich Ernest Hemingway nach seinen ausgedehnten Skitouren durchs Montafon genüsslich dem Suff. Deshalb konnte Hans Fallada nicht aufhören zu trinken, und Thomas von Quincey konnte nicht aufhören, Opium zu essen.

 

Jeder Rausch ist eine Entgrenzungserfahrung, die Grenze aber, über die wir hinauswollen, ist die Todesangst. Sie wirkt im Alltag wie eine Bremse. Weil wir uns unserer Sterblichkeit bewusst sind, vermeiden wir Risiken. Im Risikosport schaffen wir uns schon zu Lebzeiten einen Unsterblichkeitskick. Denn der Mensch kann nicht leben, ohne die Bremse gelegentlich zu lockern.

Mit den Worten John Waynes in dem Western The Shootist: „Traue keinem Mann, der keinen Alkohol trinkt“. Traue keinem Skifahrer, der sich noch nie in die Hölle des Aprés-Ski gestürzt hat.

Evelyn Finger

Dieser Text erschien gemeinsam mit den Bildern von Lois Hechenblaikner im ZEIT MAGAZIN Nr. 6, 2010.