Zur Talfahrt eines alpinen Mythos

 

Werner Bätzing

 

Dieser Text verfolgt das Ziel, Hintergrundinformationen zu den Bildern von Lois Hechenblaikner zum Thema „Pseudoalmen“ bereitzustellen, damit die Absurdität dieses verbreiteten Phänomens nicht nur unmittelbar ins Auge springt, sondern auch als Ausdruck aktueller Befindlichkeiten im Alpenraum verstanden werden kann.

 

Definition von Alm/Almwirtschaft

Der Dialektbegriff Alm (bairisch) oder Alp (alemannisch) stammt aus vorrömischen Zeiten und bezeichnet sommerliche Weideflächen im Gebirge oberhalb der Waldgrenze. Im Unterschied zu Bergnomadismus und Transhumanz, die ebenfalls solche Weideflächen nutzen, spricht man dann von Alm und Almwirtschaft, wenn die Entfernung zu den ganzjährig bewohnten Höfen, von denen die gealpten Tiere stammen, einerseits so groß ist, dass die Almen nicht mehr vom Hof aus mitbetreut werden können, sondern eine eigene Bewirtschaftungsstruktur mit eigenen Gebäuden und eigenem Personal erfordern, und andererseits so gering ist, dass enge Beziehungen zwischen den Betrieben im Tal und „ihren“ Almen bestehen (die Almen liegen meist im gleichen Tal wie die Höfe oder nicht weit jenseits der Wasserscheide, die ein Tal begrenzt).

 

Charakteristika der Almen

Aufgrund der geologischen Eigenschaften der Alpen als einem jungen Hochgebirge sind die Täler meist relativ eng und schmal (der Abtrag des Gebirges ist noch nicht weit vorangeschritten), während es oberhalb von 2.000 m oft weite und ausgedehnte Hochflächen gibt (die von der Erosion noch nicht zerstört wurden).

Für die landwirtschaftliche Nutzung der Alpen bedeutet das, dass die kleinen Talflächen für Ackerbau und Heugewinnung (Produktion des winterlichen Tierfutters) reserviert werden und dass die sommerliche Viehweide auf den Hochflächen stattfindet – nur so kann der Raum im Gebirge landwirtschaftlich sinnvoll genutzt werden.

Da eine regelmäßige, dauerhafte Beweidung die Vegetationsdecke signifikant verändert (Zunahme der Kräuter, Abnahme der Gräser) und da die Almen früh zu Lasten des Waldes stark vergrößert werden, sind Almen keine Natur-, sondern Kulturlandschaften. Diese müssen vom Menschen auf eine sehr sorgfältige Weise bewirtschaftet und gepflegt werden, damit sie weder durch Übernutzung zerstört werden, noch durch Unternutzung verwalden oder ihren Futterwert wieder verlieren. Dies erfordert sehr viel Arbeit und eine genaue Kenntnis des Hochgebirges. Viele Alpsatzungen aus dem Mittelalter belegen, dass den Älplern diese wichtige Aufgabe bereits sehr früh bewusst war und dass sie diese erfolgreich bewältigt haben (konkrete Regelungen gegen Über- und Unternutzungen von Almen).

Aus diesen Gründen gelten Almen und Almwirtschaft als ein zentrales Charakteristikum des Alpenraums, und die Almwirtschaft wurde in Österreich, Deutschland und in der Schweiz in das immaterielle Weltkulturerbe der UNESCO aufgenommen.

 

Entwicklung der Almwirtschaft

Es ist zu vermuten, dass die Almnutzung zeitgleich mit der Landwirtschaft im Alpenraum entsteht, also ab 6.000 v. Chr. in den West- und ab 5.000 v. Chr. in den Ostalpen. Frühe Hinweise gibt es in den Seealpen (Felszeichnungen im Almgebiet, ab 3.000 v. Chr.), und die derzeit frühesten archäologischen Nachweise für Almwirtschaft stammen aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus dem Silvretta-Gebiet.

Sehr lange Zeit weiden meist Schafe und Ziegen auf den Almen. Erst ab dem Mittelalter werden Rinder und Kühe zahlreicher, und seit dem 20. Jahrhundert sind diese dominierend. Weil Milchverarbeitung in allen Bauerngesellschaften der Erde Frauenarbeit ist, besteht auch das Almpersonal traditionellerweise aus weiblichen Personen. Erst als aus der Almwirtschaft zur Eigenversorgung im 14./15. Jahrhundert im Schweizer Hirtenland eine marktorientierte Almwirtschaft wird (Verkauf des Käses auf überregionalen Märkten) werden die Almarbeiten von Männern als bezahlten Spezialisten ausgeführt – der hauptberufliche Senn ersetzt auf diesen Almen die zur Familie gehörende Sennerin. Allerdings dringt diese Neuerung nur langsam und spät in andere Alpenregionen vor.

Aufgrund der extensiven Weidenutzungen (die landwirtschaftlichen Intensivierungen der Tallagen können lange Zeit auf den Almen nicht umgesetzt werden), der schwierigen Erreichbarkeit und der abgelegenen Lage haben sich auf den Almen bis weit ins 20. Jahrhundert hinein zahlreiche traditionelle Elemente wie bestimmte Nutzungsformen (Allmend-Nutzungen), Rechtsformen (mittelalterliche Rechte, sogenannte „Rechtsaltertümer“), Gebäudeformen (Almgebäude stellen oft frühe Formen landwirtschaftlicher Gebäude dar) und Brauchtumsformen (Alpruf, Almabtrieb, Kuhkämpfe, Alpsagen) erhalten. Diese repräsentieren in der bergbäuerlichen Welt die gemeinsamen Erfahrungen im Umgang mit der Alpennatur, die trotz aller Modernisierungen im Talbereich weiterhin ihre Gültigkeit behalten und die für die Identität der Menschen im Gebirge eine besonders große Bedeutung besitzen.

 

Die Verklärung der Almen im frühen Tourismus

Der Belle-Époque-Tourismus (1880 bis 1914) ist der erste Massentourismus im Alpenraum, und er nimmt dieses Gebirge als Idylle wahr: Im Gegensatz zu den Industriestädten, in denen die Menschen Natur total zerstören, würden sich die Menschen in den Alpen der Natur apassen und unterordnen, und dies wäre der Grund der landschaftlichen Schönheit der Alpen.

Dieses Bild ist jedoch ein Zerrbild, weil die Touristen gar nicht wahrnehmen, dass die Bauern im Laufe der Jahrtausende aus dem dunklen Waldgebirge der Alpen durch Rodungen eine offene und kleinräumige Landschaft gemacht haben – die „schönen Alpen“ sind Kultur- und nicht Naturlandschaft.

Und die Almen und die Almwirtschaft sind dabei für die Touristen eine ganz besondere Idylle, weil ihre Abgeschiedenheit, ihre Höhenlage und die starke Präsenz traditioneller Elemente extrem attraktiv auf sie wirken: Almen erfüllen ihre Sehnsucht nach heiler, unzerstörter Natur und nach einem einfachen, natürlichen Leben inmitten der Natur auf optimale Weise. Dass es sich bei den Almen aber um eine Kulturlandschaft handelt und dass das Leben auf der Alm mit sehr viel Arbeit verbunden ist, wird dabei völlig übersehen und negiert: Die Tätigkeit von Sennen und Hirten auf der Alm wird – im Rahmen europäischer literarischer Traditionen vom „locus amoenus“ der Römer über die Bukolik bis hin zu den barocken Schäferspielen – nicht als Arbeit, sondern als natürliche oder spielerische Tätigkeit wahrgenommen: Der Hirte liegt Flöte spielend im Gras, und die Tiere suchen sich ihr Futter selbständig. Und dort, wo auf den Almen weibliches Personal wirtschaftet, projizieren die städtischen Besucher ihre verqueren Vorstellungen einer „natürlichen“ Sexualität auf die Person der Sennerin. Damit verwandeln die Touristen die Almen von einem hochgelegenen Arbeitsort in einen Mythos der ursprünglichen Natürlichkeit, der im oberen Stockwerk des Hochgebirges angesiedelt ist.

Deshalb spielen Almen und Almwirtschaft im frühen Alpentourismus eine große Rolle und werden zu gern besuchten Sehnsuchtsorten. Einige Almen werden durch Bergbahnen erschlossen, auf einer Reihe von Almen werden Schutzhütten und Hotels errichtet, und sehr viele werden durch die neuen Alpenvereinswege den Touristen zugänglich gemacht. Die zahllosen Postkarten aus der Zeit vor 1914 mit Almmotiven sind anschauliche Belege für die große Bedeutung des Alm-Mythos.

Diese Wahrnehmung bleibt auch nach 1914 lange Zeit bestehen, und sie schwächt sich erst im Verlauf der 1980er Jahre ab, als in den Alpen die Bewunderung der schönen Natur immer mehr durch die Ausübung von „Aktiv-Sportarten“ ersetzt wird, bei denen die eigenen Körpererfahrungen im Zentrum stehen und die Landschaft zur Kulisse wird. Diese Entwicklung beginnt um das Jahr 1965 herum mit dem Wintermassentourismus (Abfahrtsskilauf nach Aufstieg mit Lift), erreicht ab den 1980er Jahren auch den Sommertourismus (Sportklettern, Mountainbiking, Riverrafting, Canyoning, Paragliding u.a.) und wird ab dem Jahr 2005 noch einmal zusätzlich durch den Bau von Hängebrücken, Aussichtsplattformen, Klettergärten und Freizeitparks an den Bergstationen der Bergbahnen gefördert.

 

Von den Almen zu den Pseudoalmen

Gleichzeitig damit, dass die Bewunderung der schönen Alpen zu etwas Altmodischem, Überholtem und Langweiligem wird, nimmt auch die Faszination der Alm als Mythos der ursprünglichen Natürlichkeit ab. Das Interesse konzentriert sich jetzt auf die unmittelbare und direkte Freizeit-Nutzung der Almen: Archaisch wirkende Almgebäude werden zu Luxus-Ferienwohnungen und Ferien-Resorts umgebaut oder völlig neu gebaut, und Almen werden zu Skigebieten und Skizentren und zu Sommerdestinationen mit Klettersteigen, Hochseilgärten, Erlebnisparks und Streichelzoos umgewandelt. Dies hat zwar weder mit dem traditionellen Almleben noch mit der frühen touristischen Begeisterung für die Almen etwas zu tun, aber die neuen Angebote auf den Almen zehren vom hohen Stellenwert und vom starken Image der Alm bei den Einheimischen und bei den Gästen. Dass bei dieser touristischen Überprägung die Almwirtschaft an den Rand gedrängt wird oder ganz von der Alm verschwindet und bestenfalls noch als Kulisse wahrgenommen wird, wird verdrängt.

Eine Steigerung der touristischen Instrumentalisierung der Alm findet statt, wenn Gebäude, die rein kommerziellen Zwecken dienen, als „Alm“ benannt werden, um den Verkauf von Produkten oder Dienstleistungen zu optimieren, und wenn solche Gebäude mit Deko-Versatzstücken ausgestattet werden, die an traditionelle Almgebäude erinnern sollen. Diese Entwicklung beginnt zwar im Almbereich, breitet sich aber sehr schnell in den Dauersiedlungen aus, wo in manchen Orten solche Gebäude häufig anzutreffen sind, und sie dringt am Schluss sogar in außeralpine Standorte vor (Skihallen, Flughäfen, Einkaufszentren). Solche „Pseudoalmen“ wirken in Talsiedlungen und im außeralpinen Raum lächerlich, weil sie hier total deplatziert sind. Deshalb kann man von der Talfahrt des Alm-Mythos sprechen.

Die Werkserie von Lois Hechenblaikner dokumentiert solche Pseudoalmen in ihrer Vielfalt. Dabei ist eindrücklich erkennbar, dass ihr gemeinsamer Nenner darin besteht, dass erstens das Fingieren oder Vorblenden der Alm-Motive gar nicht wirklich ernst gemeint ist, sondern dass damit nur gespielt wird, um bestimmte Assoziationen zu erzeugen, und dass sich zweitens Form und Inhalt dieser Gebäude widersprechen, was zu hässlichen bis hin zu lächerlichen Bauformen führt, die an Bauten in Vergnügungs- oder Freizeitparks erinnern.

Die Namen dieser Pseudoalmen verweisen auf die jeweils angebotenen Produkte: Bei „Grill-Alm“, „Haxn-Alm“, „Schnitzel-Alm“ oder „Speck-Alm“ geht es ums Essen, bei „Woll-Alm“ und „Trachten-Alm“ um Kleidung, bei „Ofen-Alm“ um Heizung, bei „Wichtel-Alm“ um Kitschprodukte, und „Dorf-Alm“, „Fest-Alm“ und „City-Alm“ sind Kneipen und Veranstaltungsorte. Bei „Sport-Alm“ und „Ski-Alm stehen sportliche Aktivitäten, bei „Wellness-Alm“ und „Alm-Sauna“ Entspannung und Regeneration im Zentrum. Und bei „Hexen-Alm“, „Platzhirsch-Alm“ und „Sünder-Alm“ geht es in Verbindung mit eindeutigen Fotos – in Anspielung auf den Mythos der „natürlichen“ Sexualität der Sennerin – um Prostitution.

 

Für die Anbieter oder Touristiker bedeutet das Errichten und Betreiben von Pseudoalmen die Orientierung an weitverbreiteten Stereotypen, um austauschbare Massenprodukte anzubieten, die mit dem jeweiligen Alpental oder Ort nichts zu tun haben und die überall angeboten werden könnten. Für die Nachfrager oder Touristen bedeutet der Kauf von Waren in den Pseudoalmen, dass sie ihre persönliche Bedürfnisbefriedigung an kommerziellen, banalisierten Standardprodukten und Standarddienstleistungen ausrichten, bei denen große Quantitäten im Zentrum stehen und bei denen sie Nichts von dem erleben, was die Alpen so interessant und so faszinierend macht. Und das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage führt dann dazu, dass in solchen Orten ein „Ballermann“-Tourismus entsteht, der zwar traditionelle Alpen-Elemente vorblendet, der aber mit den Alpen selbst nichts zu tun hat und der in dieser Form überall stattfinden könnte.

 

Viele Akteure in den Alpen haben den Eindruck, dass diese Form des Tourismus alternativlos sei, weil heute weder die traditionelle Almwirtschaft noch der touristische Alm-Mythos die Menschen begeistern würden. Dies ist jedoch ein Irrtum, der damit zusammenhängt, dass die touristischen Anbieter die Alpen und die Almen zur Ware machen und dass sie ihre Verkäufe immer weiter steigern müssen. Die große Gefahr besteht dabei darin, dass mit den Pseudoalmen die Traditionen der Almwirtschaft und der Mythos Alm verramscht und immer stärker vernutzt und verbraucht werden. Und wenn die Bedeutung der Alm am Schluss aufgebraucht und völlig verschwunden ist, dann sucht man an einem anderen Ort nach einem neuen Mythos: Diese Form des Tourismus ist nicht auf Dauer angelegt, sie ist nicht nachhaltig, und sie führt zur Selbstzerstörung.

 

Literatur zur Vertiefung:

Werner Bätzing: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. Verlag C. H. Beck, München 2015, 484 S.

Werner Bätzing: Kleines Alpen-Lexikon. Umwelt – Wirtschaft – Kultur. Verlag C. H. Beck, München 1997, 320 S., darin die Stichworte „Alm/Alp“, „Almbrauchtum“, Alm-/Alprechte“ und „Alm-/Alpwirtschaft“ (vergriffen).

Alfred Ringler: Almen und Alpen. Höhenkulturlandschaft der Alpen. Ökologie, Nutzung, Perspektiven. Hrsg.: Verein zum Schutz der Bergwelt, München 2009, 132 S. + CD-ROM mit 1.448 S.

Paul Werner: Almen. Bäuerliches Wirtschaftsleben in der Gebirgsregion. Callwey-Verlag, München 1981, 220 S. (vergriffen).