Gletscherpathologie

[Alpine Leichentücher]

 

Bernhard Kathan

 

Wer Menschen “Glück ohne das Risiko der Zeitvergeudung” bieten könne, der dirigiere den Freizeitmarkt. Tourismusorte müssten zu Marktplätzen der Eitelkeiten mutieren für den neuen Geist, der da komme. Der neue Gast sei eine Diva. Und eine Diva brauche eine Bühne, eine mit Sport, Musik, Mode und Kommunikation prall gefüllte Bühne: “Der Berg ist das Spielzeug der Zukunft. Ein Objekt der Begierde und der Sehnsucht.” Die Gebirgslandschaft als Kokette. Nur trägt sie bereits das Leichenhemd. Der Schnee bleibt zunehmend aus, Gletscher schmelzen dahin. Deshalb gilt es in Gletscherschigebieten besonders wichtige Teilstücke zu konservieren, etwa an Stellen, an denen das Abschmelzen einen für Schifahrer unüberwindlichen Abbruch zur Folge hätte. Würde es helfen, man legte ganze Gletscher in Formalin. Heute bleibt nur, deren Abschmelzen mit Hilfe von weißen, das Sonnenlicht reflektierende Folien zu verzögern, zu verlangsamen. Diese Folien lassen an Tücher denken, die über Leichen gebreitet werden. Die Wirkung verstärkt sich noch dadurch, dass diese Planen weiß leuchten, während der Schnee schmutzig wirkt.

 

 

Bernhard Kathan, geboren 1953 in Fraxern, Vorarlberg. Lebt als Künstler, Autor und Kulturhistoriker in Innsbruck. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Stille (2012), Hungerkünstler (2010), Schöne neue Kuhstallwelt (2009), Das indiskrete Organ. Organverpflanzungen in der Literatur (2008), Nichts geht verloren (2006), Strick, Badeanzug, Besamungsset. Ein Nachruf auf die kleinbäuerliche Kultur (2006), Zum Fressen gern. Zwischen Haustier und Schlachthof (2003).