Intensivstationen (II)

Wie gut man Lois Hechenblaikner als Aufklärer mit Großbildkamera bezeichnen könnte,
machen andere seiner Serien deutlich – am besten vielleicht eine, die Aprés-Ski-Stadln
gewidmet ist, welche seit rund drei Jahrzehnten am Rande der Skipisten und Talstationen
boomen.
So urig die Schankräume inszeniert sein mögen, um den Gästen mit holzvertäfelten
Wänden oder geschnitzten Möbeln den Eindruck einer authentischen Wirtskultur zu suggerieren,
so anders wird das Bild, wenn man sich in die Keller dieser Stadl begibt.
Sie sind technisch-clean, vor allem aber voll mit Schläuchen in verschiedenen Farben, sauber
verlegt wie Elektroleitungen in einem Maschinenraum, manchmal auch zu einem riesigen
Kabelsalat ineinander verknäult. So kompliziert stellt man sich die Apparaturen eines
Teilchenbeschleunigers vor – dabei geht es doch nur um Bier und Jagatee, Glühwein und
Wodka. An Getränke denkt man hier freilich nicht, vielmehr fragt man sich bei Betrachtung der
Fotos, mit was die Gäste eigentlich abgefüllt werden. Wären die Schläuche nicht an einer
zentralen Schalttafel beschriftet, vermutete man sogar Chemikalien in ihnen, zumal sie aus Tanks
und Kanistern kommen. Oder man fühlt sich an Intensivstationen erinnert
(die solche Après-Ski-Stadl für manchen auf ganz andere Weise auch sein mögen).

Daß Gastronomie und Tourismus vor allem eine Frage der Logistik sind, wußte man zwar
bereits, doch wurde es nur selten so anschaulich wie auf diesen Fotos. Und obwohl sich wohl
niemand der Illusion hingibt, die bäuerliche Dorfschenkenatmosphäre, die man ‚oben‘ erlebt, sei
echt, hätte man doch nicht erwartet, als Gast so sehr verwaltet zu werden: Computergesteuerte
Meßsysteme im Keller halten genau fest, wie viel jeweils konsumiert wird.

Was Hechenblaikner macht, erinnert daher auch an die Praktiken antiker Philosophen:
Um ihre fleischliche Lust zu zügeln, übten sie sich bekanntlich darin, beim Anblick einer schönen
Frau an ihre Eingeweide zu denken; schlagartig verschwand jegliches Begehren. Hier zeigt sich
erneut der Skeptiker, der einen Eindruck zum Kippen bringen kann, eine Kehrseite entdeckt und
so insgesamt eine Ambivalenz, eine Unsicherheit erzeugt und damit auch andere zumindest zum
Zweifeln bringt. In seiner gesamten Arbeit geht es Lois Hechenblaikner darum, solche Kehrseiten
– die dünne Oberfläche des schönen Scheins – aufzuzeigen.

 

Wolfgang Ullrich

 

Wolfgang Ullrich, geboren 1967, war von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er lebt als freier Autor in Leipzig. In zahlreichen Publikationen befasst er sich mit Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, bildsoziologischen Fragen sowie Konsumtheorie. Bücher (Auswahl): Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht (2000); Die Geschichte der Unschärfe (2002); Tiefer hängen. Über den Umgang mit der Kunst (2003); Was war Kunst? Biographien eines Begriffs (2005); Bilder auf Weltreise. Eine Globalisierungskritik (2006); Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur (2006); Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers (2007); Raffinierte Kunst. Übung vor Reproduktionen (2009); Wohlstandsphänomene (2010); An die Kunst glauben (2011); Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung (2013); Des Geistes Gegenwart. Eine Wissenschaftspoetik (2014); Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust (2016); Der kreative Mensch. Streit um eine Idee (2016).